Aconcagua 2009
Wir sind 6 Deutsche aus Bayern, Franken, Thüringen, Berlin und NRW: Rosi (47), Achim (65), Fritz (64), Joachim (63), Sigi (63) und ich (Paul, 65) als deutscher Tourenleiter, alles ehemalige Kili – Bezwinger, die sich der nächsten – wesentlich größeren Herausforderung des Aconcagua – stellen.
Am 02.02.09 verlassen wir über Frankfurt, München und Berlin Deutschland, jeder mit 20-25 kg Ausrüstung und finden am Abend des 03.Februar 2009 nach gut 15 Stunden reiner Flugzeit und Nachlieferung von teilweise verspätet eingegangenen Seesäcken/Rucksäcken in Argentiniens Provinzhauptstadt Mendoza zusammen. Hier treffen wir auch Ana (40), die wohl erfahrenste argentinische Bergführerin, die mich im Vorjahr zum ersten Mal zum Gipfel geführt hat und Mauricio (30), ihren chilenischen assistant guide.
Am nächsten Morgen geht es, nach Beantragung der „ascent-permission” im „Werte” von 330 USD (sind übrigens gemessen an den bis zu 1.000 USD am Kili ein ziemlich „sozialer” Preis, der außerdem noch einen kostenlosen Medizin- und Heli-Service bis auf 5.500 m im Notfall beinhaltet) und dem Einkauf noch fehlender Ausrüstung mit Fernando Grajales Minibus hinauf in die Anden zum „Hotel” Penitentes auf 2.600 m zu Armando, dem freundlichen Herbergsmanager.
Nach der letzten Nacht in der Zivilisation machen wir uns auf zur 1.Etappe. Nach einem letzten „Rödeln” in Fernandos Garage, wo wir noch festlegen, was mit den Mulis nach oben bis zum Basislager transportiert werden soll und was wir selbst im „day-pac” mitnehmen wollen, besteigen wir Fernandos alten Landrover. Vorbei an der letzten Ruhestätte einiger Veteranen der argentinischen Bergsteigerszene („Sonderfriedhof” für argentinische Bergführer/-steiger) sowie der Punta del Inca, der berühmten Inka-Naturbrücke über den Horcones-River, geht es zur Registrierung bei den Aconcagua-Rangern, wo wir unsere permission vorzeigen müssen. Ab jetzt sind wir „am Berg”. Die 1.Etappe ist eine Trekking-Tour von knapp 8 km mit einer Höhendifferenz von ca. 400 m (2.900m à 3.300m). Es geht im noch grünen Tal des Horcones River aufwärts über die schwankende Hängebrücke, die das Filmteam von Brad Pitt zu Aufnahmen von „Sieben Jahre in Tibet” bauen ließ. Das Tagesziel ist Gott sei Dank nicht Tibet sondern Confluencia, einem Lager, wo wir zum ersten Mal im Zelt übernachten. Der Platz ist ziemlich komfortabel mit festem Küchen- und Esszelt und sauberen Toilettenhäuschen. Pablo bewirtschaftet die Küche. Dann die erste Überraschung: anders als in den Vorjahren, müssen alle, die höher wollen, zur Medizinstation der Ranger. Mit einem verstaubten Blutdruckmesser und dem allgegenwärtigen Oxymeter rückt man uns zu Leibe, um Sauerstoffgehalt, Pulsfrequenz und Blutdruck zu checken. Ergebnis: alle von uns haben höhere Puls- und Blutdruckwerte sowie niedrigere Sauerstoffwerte als wir es selbst nachvollziehen können. Ana bemüht sich, unsere Gemüter zu beruhigen und zu erklären, dass nahezu alle, die aus Übersee anreisen und in 48h auf über 3.000 m hochgehen, solche Symptome aufweisen. Nach ersten Schockdiskussionen „ergeben” wir uns schließlich und folgen Ana`s und dem Arztrat – sofort jedes Salzen einzustellen und die eine oder andere „Senkerpille” zu schlucken. Am nächsten Morgen erhalten dann alle vom Arzt die Freigabe zum weiteren Aufstieg.
Am Folgetag steht die Akklimatisation im Vordergrund. Um 09:00 h machen wir uns auf den Weg zum south face des Aconcagua. Es geht 700 Höhenmeter aufwärts auf die Höhe von 4.000 m. Nach 3 Stunden kommen wir am Fuße der mächtigen, vergletscherten Südwand des Aconcagua an, die oben in die beiden Gipfel, dem Süd- und dem Nordgipfel endet, dessentwegen wir hierhergekommen sind. Hier kann man von unten einige berühmte Routen – z.b. die Messmer-Route oder die Polen-Route – sehen, die atemberaubende Gletscherabbrüche und Felspassagen überwinden. Danach geht’s wieder hinunter nach Confluencia, ganz im Sinne der Akklimatisationsregel „go high – sleep low”.
Nach einer frostigen Nacht bei 0°C im Zelt und einem aufmunternden Frühstück von Pablo, stehen wir um 09:30 h bereit zum Abmarsch zu unserer ersten „Leistungsprüfung”: 21,5 km weit und von 3.300 m auf 4.370 m hoch zur Plaza de Mulas. Da Joachim sich am Vortag eine dicke Blase zugezogen hat, leiht er Pablos Sandalen und macht sich entgegen aller Regeln „leicht beschuht” auf diese Marathonetappe. Es geht stundenlang wortlos sanft ansteigend das breite Horcones Tal aufwärts – wahrscheinlich das frühere Gletscherbett des Horconesgletschers, vorbei an grünen, rötlich-brauen, grauen, weißen manchmal von „falls” durchzogenen Bergzügen, die hin und wieder den Blick auf den schnee-und eisbedeckten Aconcagua-Gipfel freigeben. Am späten Nachmittag erreichen wir endlich die mächtige Steigestufe hinauf zur Plaza de Mulas. Bei schon tiefstehender Sonne kommen wir nach 9 Stunden Gehzeit auf das Plateau des Zeltlagers Plaza de Mulas und gegenüberliegend zum festen Holzhaus des Basislagers.
Das Wiedersehen mit Eduardo und seinen beiden Mitarbeiterinnen Anita und Grizella, die zwischen Mitte November und Ende Februar seit Jahren gutes Essen und eine warme Dusche im allerdings nicht beheizten Haus bereithalten, ist sehr herzlich. Nachdem unsere ganze Truppe die Etagenbetten bezogen und die warme Dusche genossen haben, treffen wir uns im großen Gemeinschaftsraum. Zusammen mit Bergsteigern aus USA, Russland, Polen, Österreich verbringen wir den ersten Abend im Basislager. Wie es sich für richtige Russen gehört, waren sie als Kognak- und Rotweinvernichtungstrupp tätig, obwohl der Gipfel noch bevorstand und es daher noch nichts zu feiern gab.
Eigentlich soll der nächste Tag ein Ruhetag sein; doch Achim wacht mit sehr niedrigem Sauerstoffwert auf und was gravierender ist: trotz 3-4 ltr Flüssigkeitsaufnahme verlässt kein Tropfen Flüssigkeit seinen Körper. Das veranlasst den aus dem Basislager von Ana sofort herbeigerufen Arzt den Helikopter zu ordern, um Achim ausfliegen und in entsprechende ärztliche Obhut in tieferen Lagen zu übergeben. Das schockt uns alle, zumal Achim als Mensch und auch als ehemaliger BW-Gebirgsjäger als Teammitglied und Gipfelaspirant eine tiefe Lücke hinterlässt.
Auch wir anderen müssen wieder durch den vollen ärztlichen Check: neben Sauerstoff, Puls und Blutdruck jetzt auch das Abhören der Lungen nach vielleicht schon eingelagertem Wasser. Schließlich passieren wir diese Prüfung und dürfen jetzt an die Hochläger auf dem Weg zum Gipfel denken.
Zunächst geht es am 09.02.09 unter der „sanften” Führung von Mauricio nach „Canada” dem 1.Hochlager auf 5.033 m. Obwohl nur 3,5 km entfernt, machen sich die 500 Höhenmeter in über 4.500 m Höhe durch Sauerstoffdefizit und „angepasste Steigegeschwindigkeit” sehr deutlich bemerkbar. Wir nehmen schon einige unserer Ausrüstungsteile mit, die in den Hochlagern benötigt werden. Auf Empfehlung und mit Unterstützung von Ana, haben wir uns entschlossen, 3 Träger zu engagieren und den Transport von ca. 10 kg Ausrüstung je Teammitglied von Hochlager 1 über Hochlager 2 nach Hochlager 3 und später wieder herunter transportieren zu lassen, um unsere eigenen Kräfte für das Wesentliche zu konzentrieren. Von „Canada” geht es wieder hinunter zum Basislager.
Nach einem weiteren Ruhetag auf 4.370 m verlassen wir dann am 11.02.09 „endgültig” das Basislager. Der erste Abend auf 5.033 m beschert uns einen tollen Sonnenuntergang direkt unterhalb der postenkartenmäßig rot-bronze angestrahlten Westwand des Aconcagua. Trotz einiger Wehwehchen, wie Kopfschmerzen oder Verdauungsunregelmäßigkeiten, die einige von uns plagen, die aber in dieser Höhe nicht unnormal sind, geht es weiter zum Hochlager 2 „Nido de Condores” auf 5.616 m, 3,5 km entfernt von Canada. Ana macht uns allen Sorge, da sie schon seit Tagen unentwegt hustet – trotz verschiedener Medikamente, die sie bereits genommen hat. Unabhängig davon zieht sie unseren Aufstieg weiter durch: Jetzt geht es auf die 6.000 m Marke zum 3.Hochlager „Colera”.
Von hier oben sieht man auf die meisten umliegenden Andenriesen der Kategorie 5.000 – 6.000 m herab; sie sind mächtig vergletschert, mit Abbrüchen und tiefen Spalten, mit wilden, zerklüfteten Felsformationen, unten sanft auslaufend in braun-grauen Tälern und den entsprechenden Gletscherabflüssen, je nach Sonnenstand und Wolkenbild in unvergesslichen Kompositionen aus Schnee, Eis, Fels, Wolken und Horizont – eben die Anden „ganz oben” – weswegen wir auch hierhergekommen sind, um diese Eindrücke aufzunehmen.
Auch Mauritio leidet unter einer Erkältung. Anders als Ana nimmt er sie zum Anlass, direkt nach Erreichen von Hochlager 3 wieder ins Basislager abzusteigen, um sich auszukurieren.
Nach einer kalten, stürmischen und sauerstoffarmen Nacht auf 6.000 m hat Rosi anhaltende Kopfschmerzen und niedrige Sauerstoffwerte. Bei Fritz, der sich eigentlich gut fühlt, wird eine ebenfalls reduzierte Sauerstoffkonzentration gemessen; zudem Anzeichen eines Weichteilödemes, welches in dieser Höhe sehr häufig vorkommt. In Verantwortung für die Gesundheit beider Teammitglieder bittet Ana beide, nicht weiter aufzusteigen. Die Erfahrung von Ana in dieser hohen Höhe ist, dass sich niedrige Sauerstoffwerte von unter 70% Sauerstoffsättigung sehr schnell – innerhalb von Stunden – in ein lebensbedrohliches Lungen- oder Hirnödem entwickeln können, für das es dann in hoher Höhe nur wenig Rettung gibt.
Fritz hat die Energie, auf offiziell mit GPS gemessene 6.021 m aufzusteígen, um damit seinen eigenen Höhenrekord auf dieser Höhe festzuschreiben. Für Rosi, neben Ana der einzigen Frau unseres Teams, sind die erreichten 6.000 Höhenmeter eine ebenfalls enorme Energieleistung, die nicht sehr viele Menschen in der Lage zu bringen sind.
Die beiden folgen im Laufe des Tages dem Rat von Ana und gehen mit einem Führer hinunter zum Basislager.
So bleiben Ana, Sigi, Joachim und ich zurück im Hochlager 3. Im Laufe des Tages, den wir als Ruhetag nutzen, fällt Joachim die Entscheidung, am nächsten Tag abzusteigen, da er sich „dizzy” und ausgepowert von den bisher durchgeführten Aufstiegen fühlt. Nach einer aufgrund von Kälte, Sturm und Anas Husten kaum durchschlafenden Nacht, entschließt sich auch Sigi am nächsten Morgen, mit Joachim zum Basislager zurückzukehren. Auch Joachim und Sigi haben mit den erreichten 6.000 Höhenmetern persönliche Bestmarken aufgestellt und können stolz auf das Erreichte sein.
So verbleiben aus unserer Gruppe nur die gesundheitlich angeschlagene Ana und ich, am nächsten Morgen, einen Gipfelversuch zu starten. Nach einem Frühstück, das keines war (1 Tasse Tee + 2 Kekse) machen wir uns – eingehüllt in 3 Lagen Kleidung – außen Daunenhose und -jacke um 06:30 h auf den Weg in Sturm und leichtem Schneefall.
Der Neuschnee aus der Nacht veranlasst uns, in der Spur einer früher gestarteten Expedition nach Indepedencia aufzusteigen. Bereits am 2. Hang verlassen wir die Spur, um in „short cuts” also der „diretissima” etwas schneller voranzukommen. Irgendwann erreichen wir – es ist bereits hell und der Schatten des Gipfels spiegelt sich im Licht der aufgehenden Sonne im Morgendunst des Horizonts – die „Hundehütte” (Holzverschlag als Notunterkunft für Gestrandete) von Independencia. Dort treffen wir auf ca. 10 Amerikaner, die bereits seit 05:00 h unterwegs sind. Nach gemeinsamer Rast geht es über einen giftigen Anstieg zu einem Sattel, der im aufgewirbelten Schnee verschwindet und der schließlich zur 1. Traverse führt, die nun in ihrer vollen Länge vor uns liegt. Sie führt von unten links nach oben rechts – voll im Wind liegend – einen breiten Hang hinauf. Wir treten unsere eigene Spur im Neuschnee. Die Herausforderung hier im Neuschnee: nicht aus der Spur zu kommen, denn nach rechts geht es den Hang hinunter und jetzt verstehe ich, warum Ana die „iceax” als notwendige Ausrüstung angesprochen hat, die ich jetzt nicht bei mir habe. Wer hier ausrutscht, saust auf der Daunenkleidung ungebremst „abbi”. Mit voller Konzentration und nach vielleicht 2-3 Stunden erreichen wir das Ende der Traverse, um am Beginn der Canaletta – unter einem bedrohlich überhängenden Fels-/Gesteingemisch – neue Kraft für die eigentliche Herausforderung des Gipfeltages, die Canaletta, zu sammeln.
Die Canaletta hat einen Steigungswinkel von ca. 45° und ist durch den Neuschnee sehr kraftraubend. Ich verliere mehrmals das linke Steigeisen und das Anlegen bereitet mir große Mühe – insbesondere auch da ich jeweils die Dauenenhandschuhe ablegen muß. Nach einem endlos erscheinendem, nur sehr langsam vorangehenden Anstieg in dem steilen Gelände kommt irgendwann rechts von uns der etwas niedrigere Südgipfel in Sicht und wir gewinnen erstmals das Gefühl, den Gipfel erreichen zu können.
Gegen 15:00 h (15.02.09) – nach 8 ½ Stunden harter und konzentrierter Arbeit am Berg – erreichen wir den Gipfel. Mein GPS zeigt 6.966 m. Wir fallen uns wie im Vorjahr (19.02.08) in die Arme. Diesmal ist Ana – krankheitsbedingt – mehr ausgepowert als ich. Unser Gipfelglück ist nur kurz, denn schon im Aufstieg haben wir mit Sorge die von allen Seiten aufquellenden Wolken beobachtet. Einige Fotos und dann eröffnet mir Ana, dass dieser ihr 22. Gipfel wahrscheinlich ihr letzter ist. Sie will ihre Bergführerkarriere beenden! Wird mein 2. Aconcagua-Gipfel auch der für mich letzte sein? Einige flüchtige Tränen und dann volle Konzentration auf den Abstieg!
Schon 10 min nach Verlassen des Gipfels fängt ein Schneesturm an, es wird fast völlig dunkel, Blitz, Donner und in einer Stunde fällt 1/2 m Schnee. Ein mit uns absteigender chilenischer Physikprofessor versucht sich mit der backtrack-Funktion seines GPS zu orientieren. Die hilft aber nicht sondern nur Ana`s Orientierungssinn von Fels zu Fels und ihre Ortskenntnis aus den vorangegangenen 21 Besteigungen in 20 Jahren. So folgen wir ihr einerseits im Bewusstsein, dass Naturelemente stärker sind als Menschen und anderseits dankbar dafür, dass es dennoch einen Menschen gibt, der sich hier noch zurechtfindet. Nach 3 Stunden höchster Konzentration im unvermindert anhalten Schneesturm erreichen wir endlich unser Hochlager 3 auf 6.000 m und fallen erschöpft – ohne weiteres Essen und Trinken – sofort in unsere Zelte.
Am nächsten Morgen stürmt es immer noch; mein Zelt ist voller Schnee, alles gefroren oder nass – aber dennoch glücklich – und voller Respekt vor diesem mächtigen Berg, dem höchsten der gesamten westlichen Hemisphäre beginnen Ana und ich den Abstieg zu unseren Freunden im Basislager.
Würselen/Aachen, den 27.02.09
Paul Thelen